dbb magazin 7/8 2015 - page 25

Europäische Staatsschulden:
Unbequeme Entscheidungen
gefragt
Nach langen Krisenjahren sind die Fundamente der Europäischen Union
unterspült. Der Schengen-Raum könnte zusammenbrechen noch ehe die
Eurozone infolge der Schuldenkrise ins Rutschen gerät. Wo man hinsieht,
Neid und Streit statt Zusammenarbeit. Dabei müsste eben diese stärken,
wer das Chaos vermeiden will. Ob die Einigung der 19 Euroländer nach
dem griechischen „Oxi“ die Probleme mit Athen dauerhaft löst und die
Währungsunion stabilisiert, bleibt einstweilen offen.
Immer größere Fliehkräfte zer-
ren an der Europäischen Union.
Nicht genug des Dramas, das
sich imMutterland der Demo-
kratie vollzieht. Wie auch im-
mer es nach dem 17-stündigen
Brüsseler Marathongipfel wei-
tergeht, von Griechenland,
dessen Führung nach dem
schallenden Nein die Revoluti-
on auszurufen schien, wird bis
auf Weiteres hohe politische
Ansteckungsgefahr ausgehen.
Im Herbst könnte Podemos,
die spanische Schwesterpartei
von Syriza, der Macht sehr
nahe kommen. Nicht umsonst
sperrte sich vor allem Spanien
gegen Konzilianz gegenüber
Griechenland.
Nicht im Euro, aber als größter
mittelosteuropäischer Staat
bedeutend, wählen die Polen
eine neue Regierung. Im Falle
eines seit der Präsidentenwahl
wahrscheinlichen Wahlsieges
der rechtsnationalen Partei für
Recht und Gerechtigkeit (PIS)
würde Polen sich als konstruk-
tiver EU-Partner auf Jahre ver-
abschieden. Großbritannien,
das auch die direkte Demokra-
tie als Machthebel nutzt, for-
dert einen Rückbau der Union.
Seine Linie wird unterstützt
von den Niederlanden, von
Dänemark und Tschechien.
Dänemark kontrolliert wieder
an den Binnengrenzen. Ungarn
baut nach außen eine Mauer
auf und im Innern Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit ab.
Bulgarien und Rumänien ver-
sinken ebenso in Korruption
wie Kroatien. Der Exportwelt-
meister Deutschland und das
wirtschaftlich geschwächte
Frankreich finden nur noch
mit großer Mühe gemeinsame
Linien, von denen aber keine
geradewegs in eine bessere
europäische Zukunft weist.
Wie soll es angesichts all des-
sen weitergehen? Eigentlich
wäre gerade jetzt eine mutige
Politik gefordert. Wenn weder
der Grexit noch ein zu großes
Entgegenkommen der Gläubi-
ger vertretbare Optionen sind,
bleibt dann nicht nur noch der
Integrationssprung nach vorn?
2012 hatten die deutschen
Wirtschaftsweisen vorge-
schlagen, einen europäischen
Altschuldentilgungsfonds ins
Leben zu rufen. Ihr Vorschlag
wurde von der Politik katego-
risch abgelehnt. Wenn alle
Staatsschulden über 60 Pro-
zent vergemeinschaftet wür-
den, wäre die „Transferunion“
vollends da, sagen die Kritiker.
Jedoch führt auch die Politik
der Europäischen Zentralbank,
die den großen Crash bisher zu
verhindern wusste, faktisch zu
einem europäischen Finanz-
ausgleich.
Einstweilen offen bleibt, wie
Berlin und Paris die Eurozone
weiter vertiefen wollen. Eine
Teilvergemeinschaftung der
Staatsschulden allein brächte
die Lösung auch nicht. Denn
wer nicht mehr allein haftet,
kann auch nicht mehr allein
entscheiden. Die Euro-Mitglie-
der müssten sich auf einen
weitreichenden Souveräni-
tätsverzicht in der Haushalts-
und Finanzpolitik einlassen.
Die Europäische Regierung,
die es bräuchte, müsste demo-
kratisch legitimiert und in
ihrer Machtfülle auch von
den Bevölkerungen akzeptiert
werden. Bis dahin allerdings
ist es politisch noch ein weiter
Weg.
Nach der Einigung der Staats-
und Regierungschefs der Euro-
zone bleibt die Sorge, dass das
Ringen jener schlaflosen Nacht
auch außerhalb Griechenlands
zu politischen Erosionserschei-
nungen führt. Deutschland
und Frankreich können es in
einer EU der 28 zwar nicht
mehr alleine richten. Ohne
Einvernehmen zwischen Paris
und Berlin geht es aber auch
nicht. Ein deutsch-französi-
sches Zerwürfnis gar wäre für
die EU insgesamt gefährlich.
Die Staatsschuldenproble­
matik kann in einer Währungs-
union nur gemeinsam gelöst
werden, nicht ohne Solidität,
aber auch nicht ohne Solidari-
tät. Weiterer Zwist wäre keine
gute Voraussetzung für die Be-
wältigung anderer Großkrisen-
herde, ebenso wenig auch für
die Meisterung ungelöster Zu-
kunftsaufgaben, wie sie sich
zu Anfang des 21. Jahrhun-
derts stellen.
cm
<<
Info
Weiterführender Link zu
den Vorträgen der Fachta-
gung:
<<
Birgit Köper, Bundesanstalt
für Arbeitsschutz und Arbeits-
medizin
Sowohl die Arbeitgeberseite als
auch die Europäische Kommissi-
on hätten bereits Gesprächsbe-
reitschaft signalisiert. „Jetzt
geht es darum, auch faktische
Verbesserungen für öffentlich
Bedienstete in den Zentralver-
waltungen der Mitgliedstaaten
zu erreichen.“
Einen Überblick über aktuelle
und vergangene Umstrukturie-
rungen gab John Hurley, der
den jährlichen Umstrukturie-
rungsreport der Europäischen
Stiftung zur Verbesserung der
Lebens- und Arbeitsbedingun-
gen (Eurofound) präsentierte.
Die konkreten Auswirkungen
zum Beispiel auf die Gesund-
heit von Beschäftigten im öf-
fentlichen Dienst durch Um-
strukturierungen wurden von
Birgit Köper von der Bundes­
anstalt für Arbeitsschutz und
Arbeitsmedizin präsentiert.
Bei den meisten Umstruktu­
rierungen würde dies zu stark
vernachlässigt, die Folgen für
Arbeitnehmer würden nicht
ausreichend beachtet, dabei sei
dies ein entscheidender Aspekt,
der über Erfolg oder Misserfolg
von entsprechenden Reformen
mit entscheide.
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